Vieles in unserem Leben läuft automatisch ab. Unser Alltag wird von Dingen beherrscht, die wir wie ferngesteuert erledigen. Jeder kennt wahrscheinlich den Moment, in dem es uns plötzlich kochendheiß wird, weil wir uns nicht mehr daran erinnern können, ob wir den Herd ausgestellt oder die Tür abgeschlossen haben, bevor wir gegangen sind. Oder diese leidigen Fernbedienungen für das Autoschloss. Wie oft wusste ich an der Haustür schon nicht mehr, ob ich die Fernbedienung denn nun auch benutzt hatte. Wie lästig! Oder eher ein Aufruf für mehr Aufmerksamkeit im Alltag? Auch bei Routinehandlungen? Wie auch immer. Wahrscheinlich wären wir überfordert, wenn wir alle, ALLE Tätigkeiten mit vollster Konzentration und Aufmerksamkeit und geerdet im Hier und Jetzt erledigen müssten. Tja – wäre das zu viel oder wäre das eigentlich genau das Richtige? Wir sind so reizüberflutet, dass es uns geradezu danach verlangt, mal das Gehirn abzuschalten. Deswegen sitzen so viele Menschen so gerne vor dem Fernseher. Oder laufen im Alltag auf Autopilot. Ich will das gar nicht so negativ sehen, es ist ja irgendwie auch eine Art Selbstschutz.
Yoga erfordert aber gerade, dass wir diesen „Selbstschutz“ aufgeben. Nämlich dass wir uns nur mit dem beschäftigen, was wir jetzt gerade in diesem Moment tun. Selbst wenn wir nichts tun, immerhin atmen wir dann – hoffentlich. Wir spüren diese Atmung, wir schmecken diese Luft, wir nehmen angenehme oder auch unangenehme Gerüche wahr. Ja, Yoga ist genau das! Es besteht nicht nur aus Körperübungen/Asanas oder Atemübungen. Immer wenn wir aufmerksam alles wahrnehmen, üben wir Yoga.
Üben wir aber Asanas, dann sind alle Automatismen fehl am Platz. Und genau darum geht es in unserer Übungspraxis. Es geht nicht darum, eine Yogaposition möglichst perfekt einzunehmen. Wir wollen schließlich nicht irgendwo auftreten und uns bewundern lassen. Es geht nicht um äußere Dinge. Natürlich streben wir ein Ideal an, eine perfekt ausgeführte Yogaposition. Aber der Weg dahin ist nicht die äußere Perfektion, sondern die Arbeit an meiner Aufmerksamkeit. Am Zugang meines Bewusstseins zu den verschiedenen Körperteilen, Muskeln, Fasern, Zellen. Schaffe ich es, meine Aufmerksamkeit so konzentriert und zielgerichtet auf eine Bewegung zu fokussieren, dass ich meinem Ideal dieser Yogaposition näher komme? Das ist die Frage, die ich mir stellen muss, wenn ich übe. Und ich entdecke während des Übens – nicht nur ein Mal, sondern über viele Jahre hinweg – dass ich viele Bewegungen automatisch mache, ohne Aufmerksamkeit, ohne es zu merken. Mein Üben wird mechanisch, wenn ich diese Automatismen nicht wahrnehme und in der Folge auflöse. Ich komme meinem Ideal einer Yogaposition nie näher, wenn ich mechanisch übe – und wenn ich hundert Jahre übe. Ich werde diese Yogaposition dann nicht in ihrer vollen Auswirkung spüren. Sicherlich werde ich positive Effekte haben, es geht mir sicherlich gut nach dem Üben, aber dieses „Gut-Fühlen“ erreiche ich auch mit anderen Methoden, dafür brauche ich Yoga nicht.
Ich kann ein Asana heute nicht so üben wie ich es gestern geübt habe. Gestern herrschten ganz andere Bedingungen als heute und heute muss ich auf die Bedingungen von heute eingehen. Ich kann nicht mechanisch üben, wenn ich dies berücksichtige. Ich muss jede Bewegung, jede Idee einer Bewegung mit vollstem „Da-Sein“ ausführen, immer wieder alles hinterfragen, immer wieder ergründen, welche Veränderung in der Ausführung welche Auswirkung hat.
Wer hört gerne einem Musiker zu, der mechanisch all die Stücke abspult, die er mal gelernt hat? Der nicht mit seinem Herzen spielt, seinem ganzen Wesen. Der nicht so tief versunken ist in seine Musik, dass er nichts mehr wahrnimmt, nicht die Zuhörer, nicht den Raum, nicht die Umgebung. Nur die Musik – und sich selbst in der Musik.
Ja. Auch das ist Yoga.
Mein Instrument ist nicht das Klavier oder die Geige oder sonst ein Musikinstrument. Mein Instrument ist mein Körper. Aber mit diesem Körper will ich Musik machen und auf diesem Körper will ich spielen wie ein Virtuose – entrückt von der Welt aber doch mit dem ganzen Sein im Tun versunken. Und das Meisterwerk, das daraus entsteht, ist meine ideale Yogaposition.