Angst und Stolz

Hand aufs Herz: Übst du zu Hause?

Du gehst regelmäßig oder weniger regelmäßig zum Yogaunterricht. Das ist gut. Aber übst du auch zu Hause? Keine Angst, hier kommt kein erhobener Zeigefinger. Ich frage nur aus Interesse. Es gibt viele Gründe, warum man nicht zu Hause übt. Kein Platz, keine Zeit, keine Yogamatte, die Kinder, der Beruf… Alles ok.

Es gibt einen ganz großen Grund, warum viele Yogaschüler nicht zu Hause üben: Weil sie Angst haben, etwas falsch zu machen.

Aber warum? Was soll denn passieren? Beim nächsten Unterricht kommt die Übung wieder vor und du merkst sofort, was du zu Hause falsch gemacht oder einfach auch vergessen hast. Das ist doch kein Beinbruch. Perfektionismus hat im Yoga nichts zu suchen. Im Gegenteil: Wenn wir keine Fehler machen, dann lernen wir auch nichts.

Auch im Unterricht ist zu merken, dass viele Teilnehmer bei Gleichgewichtsübungen Angst vor dem Fallen haben. Auch wenn sie eigentlich wissen, dass sie sich nicht verletzen können, wenn sie fallen, haben sie doch Angst. Nicht unbedingt Angst vor dem Fallen – Angst vor dem Nicht-Können, vor dem Scheitern. Und alle sehen es.

Wir müssen fallen. Damit wir wissen, was wir machen müssen, um Stabilität zu erlangen. Es ist sicherlich auch eine körperliche Geschichte – selbstverständlich muss unser Körper lernen, die richtige Arbeit auszuführen, um das Gleichgewicht zu halten. Aber wenn ich selbst in meinem Inneren in diesem Moment nicht im Gleichgewicht bin, wie soll mein Körper das schaffen?

Wenn wir während des Übens eines Asanas immer daran denken, wie dies wohl von außen aussieht – also durch das Auge eines Betrachters – dann sind wir abgelenkt. Unser Leben ist heute so öffentlich durch all die Möglichkeiten, die sich in den letzten Jahren ergeben haben. Wir posten unser Befinden, unsere Gedanken, unsere banalsten Tätigkeiten, drehen Videos über unsere Einkäufe, stellen uns selbst in den Vordergrund, spielen die Hauptrolle bei all unseren Internettätigkeiten. Dafür brauchen wir Zuschauer. Wir wollen gesehen werden! Was soll all das posten, Videos hochladen, bloggen, wenn uns niemand sieht?

Und so denken wir bei all unseren Tätigkeiten an unsere Zuschauer. Ist es nicht so?

Yoga ist keine Performance. Wir üben nicht Yoga, um dann hinterher irgendwo aufzutreten. Wir brauchen keine Zuschauer. Wir müssen uns nicht zeigen. Wir müssen niemandem etwas beweisen oder vormachen.

Das haben viele nicht verstanden. Stolz werden Fotos oder Videos im Internet präsentiert, die jemanden in einer Yogaposition zeigen. In Zeitschriften werden verklärte Fotos von Models mit auffallendem Schmuck und schicken Wallegewändern in Yogapositionen gezeigt, die nicht korrekt ausgeführt sind. Die Zeitschriften wollen ästhetische Bilder zeigen und bedienen sich alter oder neuer Klischees, um Emotionen anzusprechen.

Aber dieser Drang des „Zeigenmüssens“ über private oder nicht so private Fotos oder Videos ist für mich nicht nachzuvollziehen, wenn sie mit den Ziel veröffentlicht werden, eine breite Masse an Menschen zu erreichen. Nicht für Unterrichtszwecke, nicht für einen Austausch unter z.B. Teilnehmern eines Yogaurlaubs, -seminars, etc., sondern nur zu dem Zwecke, gesehen und bewundert zu werden.

Stolz ist ein Hindernis auf dem Weg zum Yoga. Stolz auf eine perfekte (äußere) Yoga-Haltung ist ein Zeichen dafür, dass man den Kern der Sache nicht verstanden hat. Und ein Zeichen für Unsicherheit oder sogar Angst. Wer sich nur durch Anerkennung oder Bewunderung anderer gut fühlen kann, zeigt seine Angst vor dem Versagen.

Yoga ist keine Show, keine Akrobatik, keine rein körperliche Angelegenheit. Yoga ist ein innerer Prozess, eine Entwicklung, eine gewisse Einstellung. Das Präsentieren einer Position läuft dem zuwider, ist genau das Gegenteil. Und deswegen ist es auch nicht wichtig, ob deine Ausführung eines Asanas nun fotoreif ist. Wichtig ist, wie du diese äußere Form eines Asanas ausfüllst in deinem Inneren.

Es ist nicht selten, dass im Unterricht folgende Situation entsteht: Es wird ein neues Asana ausprobiert, das etwas herausfordernder ist. Eines dieser Asanas, das man nicht auf Anhieb können kann. Ein Schüler probiert es aus, schafft es nicht beim ersten Versuch. Der zweite wird verweigert mit den Worten: „Das muss ich zu Hause erst mal ein bisschen üben…“ NEIN! Jetzt ist der Zeitpunkt, das zu üben! Gerne kannst du zu Hause üben, ich freue mich, wenn du dies tust. Aber stelle dich der Herausforderung jetzt! Denn zu Hause wirst du es nicht tun. Alle scheitern an diesem ersten Versuch, also traue dich!

Wer sich wirklich auf Yoga einlässt und über lange Zeit übt, lernt nicht nur die Übungen korrekt auszuführen. Er lernt vor allem, dass Lernen ein langer Prozess von ausprobieren, falsch machen, scheitern, akzeptieren und wiederholen ist. Man kann nichts von Anfang an können. Und dieser lange Prozess des Lernens durch Fehler nimmt einem in gewisser Weise diesen Hochmut, den jeder in sich trägt. Diesen Anspruch, dass man alles sofort oder zumindest in kürzester Zeit können muss. Dass alles, was man macht, perfekt sein muss. Und es nimmt einem die Angst, das Gesicht zu verlieren, wenn man merkt, dass man doch nicht alles perfekt kann. Scheitern oder Falschmachen ist kein Gesichtsverlust – es ist Lernen!

Also übe zu Hause. Die Übungen sind nicht so akrobatisch, dass du dich daran verletzen kannst. Was soll die Angst? Halte dich an die Übungen, die du im Unterricht schon gelernt hast und lass die eindrucksvollen Verrenkungen aus den Büchern oder aus dem Internet weg.

Habe Spaß!

 

Und wie Angst und Ernährung zusammenhängen, erfährst du im dritten Teil des Minikurses. Trage dich für den Newsletter ein und erhalte Zugang zum Kurs!

 

 

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