Ein „Gebot“ im Yoga ist das Prinzip der Gewaltlosigkeit. Anderen Menschen gegenüber, aber auch gegenüber Tieren und gegenüber der Umwelt, in der wir leben. Wir dürfen nicht wählerisch sein darin, wen oder was wir mit Gewaltlosigkeit beglücken, sondern es sollte eine uns innewohnende Haltung oder Einstellung sein, so dass wir gar nicht anders handeln (und denken) können.
Also gilt das Prinzip der Gewaltlosigkeit auch uns selbst gegenüber. Was das im Bereich der Ernährung bedeuten könnte, habe ich bereits in einem anderen Beitrag beschrieben. Was bedeutet das aber in Bezug auf unseren Körper, unsere Gesundheit? Und ganz besonders in Bezug auf unser Üben?
Angenommen ich habe Schulterschmerzen, bin morgens aufgewacht und kann meinen Arm nicht mehr schmerzfrei in alle Richtungen bewegen. Ich habe vielleicht in einem fremden Bett den tiefen Schlaf der Erschöpfung genossen und mich dabei (stundenlang) in einer ungünstigen Schlafposition befunden. Und die Schulter bereitet mir über Tage und Wochen hinweg nun Schmerzen.
Was tun? Schonen? Das wäre eine Möglichkeit, würde aber die Genesungszeit erheblich verlängern. Und mich außerdem für lange Zeit in meiner Yogapraxis sehr einschränken, denn dann könnte ich ja kaum noch eine Übung ausführen.
Die Übungen also nur mit halbem Einsatz unter Berücksichtigung der Schmerzen üben? Also den Arm nur so bewegen, dass ich keine Schmerzen habe? Was impliziert, dass ich eine Schonhaltung einnehme und die Ausführung der Übungen nicht korrekt ist.
Das ist Gewalt gegenüber mir selbst. Denn durch das Einnehmen der Schonhaltung vermeide ich zwar Schmerzen, vermeide aber auch die korrekte Bewegung im betroffenen Gelenk, was nicht zu einer Erleichterung der Beschwerden führt.
Kurz gesagt, ich vermeide die Heilung, weil ich Schmerzen vermeide.
Je nach Übung aber kann die nicht korrekte Bewegung des Armes, der Schulter weiter zu einer nicht korrekten Ausrichtung eines anderen Gelenkes führen. Und das kann dann auf Dauer zu neuen Problemen führen, dieses Mal eben in einem anderen Bereich des Körpers, verursacht durch meine Schonhaltung.
Was ist die Lösung? Ich muss die korrekte Bewegung des Armes und die korrekte Ausrichtung der Schulter in allen Übungen unter allen Umständen „suchen“. Ich sage suchen, weil manchmal die Bewegungsfreiheit so eingeschränkt ist, dass die korrekte Ausrichtung gar nicht eingenommen werden kann. Aber ich muss sie anstreben, auch wenn es schmerzt. Ich darf nicht aufgeben und sagen: „Ach, es tut so weh, ich lass das heute mal oder mache nur halb.“ Nein! Morgen komme ich der korrekten Ausrichtung ein wenig näher als heute, wenn ich mich darum bemühe. Und wenn ich genau in mich hinein höre, dann merke ich, dass dieser Schmerz kein Warnsignal ist, sondern sich gut anfühlt (wenn man das so sagen kann).
Diese Art des Übens erfordert natürlich Vertrauen. Vertrauen in Yoga, Vertrauen auf den Lehrer, Vertrauen in den eigenen Körper. Nach einer Übungseinheit wird man fühlen, dass es gut getan hat. Es hat geschmerzt, aber es hat zu etwas Gutem geführt. Und so wächst das Vertrauen.
Diese Einstellung dem Üben und den eigenen Schwächen gegenüber entwickelt sich erst im Laufe der Zeit und parallel beim Üben der Asanas und im gesamten eigenen Leben. Auch im Alltag geht man bald mit Problemen, Schwächen, Schwierigkeiten anders um. Wir weichen nicht mehr aus. Wir laufen nicht mehr weg. Die Tendenz, uns zu schonen (der meistens Trägheit zugrunde liegt) können wir überwinden und das Richtige tun, auch wenn es im Augenblick schwierig ist.
Wenn ich die Schulter allerdings nicht korrekt ausrichte und gehe trotzdem in den Schmerz, dann ist dies einfach eine falsche Art des Übens, die mir schadet. Um das zu vermeiden, brauche ich die richtige Anleitung. Auf gar keinen Fall soll dieser Text den Leser dazu bringen, unter Missachtung von Schmerzen auf eigene Faust irgendwelche Positionen einzunehmen, die der Körper mit seinen Schwachstellen nicht einnehmen kann. Denn das birgt eine nicht unerhebliche Verletzungsgefahr in sich. Deshalb ist es so wichtig, dass man sich einen qualifizierten Yogalehrer sucht, der weiß, wie man mit diesen Schwachstellen umgeht.
Das gilt übrigens auch in Bezug auf das Knie. Auch hier muss ich unbedingt die korrekte Ausrichtung des Gelenkes und aller benachbarten Gelenke beachten – aber es darf im Knie keinen Schmerz geben. Und falls es beim Üben im Knie schmerzen sollte, merke ich sofort, dass dieser Schmerz ein Warnsignal ist. Trotzdem so weitermachen wie vorher wäre Gewalt gegen mich selbst. Ob und wie intensiv geübt werden kann, kann einem nur ein erfahrener Lehrer sagen, denn es gibt selbstverständlich Einschränkungen wie z.B. frische Verletzungen oder Entzündungen o.ä.
Der Kern dieser Ausführungen ist:
Wir können durch Tun Gewalt ausüben. Wir können jedoch auch durch Nicht-Tun Gewalt ausüben. Die Schwierigkeit liegt darin, das richtige Maß herauszufinden.
Das Üben der Yogapositionen mit dieser Disziplin ist eine hervorragende Schule für das Leben. Und wir entwickeln ein feines Gespür dafür, was Gewaltlosigkeit wirklich bedeutet:
Manchmal kann es sein, dass wir streng sein müssen. Manchmal kann es sein, dass wir sanft sein müssen. Aber immer liebevoll.
Ein Gedanke zu “Ahimsa 2”